Das ist unser Haus
"1, 2, 3 lasst die Leute frei" - Nach Straßenschlachten am 12. Dezember 1980 in Berlin entstand eine Solidaritätsbewegung für die Verhafteten. Die Ereignisse in Berlin wurden von der Nürnberger Besetzungsbewegung aufmerksam beobachtet.
Foto: Michael Kipp/Umbruch Bildarchiv
Schon wieder ist ein Haus besetzt...
Am Abend des 24. Dezember 1980 besetzen ca. 30 Jugendliche ein Haus in Nürnberg-Johannis. Das Anwesen Johannisstraße 70 ist seit längerem unbewohnt. Die Besetzer*innen hängen Transparente aus den Fenstern, die deutlich machen, dass sich ihre Aktion gegen die Wohnungsnot richtet.
„Wir haben natürlich drin ein bisschen Licht gemacht mit Kerzen und Taschenlampen und haben dann natürlich als erstes Transparente raus gehangen, dass das Haus besetzt ist. ...und dann war auch relativ schnell Polizei da, die allerdings nicht geräumt hat.“ (Max, 2022)
Die Aktion in Nürnberg ist kein Einzelfall. Hausbesetzungen sind neben Mietstreiks und Demonstrationen eine Aktionsform der in den 70er Jahren entstandenen Bewegung gegen Spekulation und Wohnraumvernichtung. Diese umfasst ein breites Spektrum gesellschaftlicher Kräfte: von Entmietung bedrohte Bewohner*innen, kirchliche Organisationen, Gewerkschaften, Sponti- und K-Gruppen.
Mitte der 1970er Jahre erreicht sie einen ersten Höhepunkt. In Frankfurt kommt es zu heftigen Straßenschlachten, bei denen Barrikaden gegen die Polizeikräfte errichtet werden, die bei Räumungen mit Wasserwerfern und Tränengas vorgehen. Dies wird von staatlicher Seite zum Anlass genommen, die Polizei massiv aufzurüsten. 4 Ab 1979 werden zunehmend auch in Hamburg und Berlin leerstehende Häuser besetzt.
Als Teil dieser Bewegung sieht sich auch die Nürnberger Gruppe:
„Es gab eine Kaskade von Hausbesetzungen von Hamburg, Berlin, ganz viele. Wir haben uns auf diese Besetzungen bezogen, gesagt: wir brauchen auch in Nürnberg Wohnraum, es gibt eine Knappheit, insbesondere junge Menschen suchen Wohnungen, wir organisieren und nehmen uns den leerstehenden Raum.„ (Natale, 2001)
In West-Berlin, wo zu der Zeit 18 Häuser besetzt sind, eskaliert am 12. Dezember 1980 die Lage nach einer von der Polizei verhinderten weiteren Besetzung in Kreuzberg. Weil das Gerücht umgeht, dass bereits besetzte Häuser geräumt werden sollen, werden Barrikaden errichtet. Die Polizei setzt Knüppel und Tränengas ein und provoziert eine Straßenschlacht. Es gibt 57 Festnahmen und über 100 Verletzte. Vertreter*innen der Bewegung stellen ein Ultimatum zur Freilassung aller Inhaftierten. Als dieses abläuft zieht eine Demo zum Kudamm. Es klirren Scheiben, Auslagen werden geplündert. 5
Die weihnachtliche Aktion in Nürnberg hatte eine Kerngruppe von langer Hand geplant. Die Ereignisse in Berlin tragen nun dazu bei, dass ihre Besetzung durch die Öffentlichkeit stärker wahrgenommen wird und im Verlauf eine lokale Hausbesetzungsbewegung entstehen kann.
Zur Planung und Vorbereitung finden sich die jungen Leute im soziokulturellen Zentrum KOMM zusammen.
„Die Gruppe im KOMM..., - alle die sich da getroffen haben - das war sehr gemischt, Männer wie Frauen. Wobei vielleicht die Frauen etwas in der Minderheit waren bei der Besetzung selber. Die Frauen, die dann wirklich dort gewohnt und dort geschlafen haben waren schwer in der Minderheit. Das waren zwei bis drei nur. Das hatte aber damals wahrscheinlich altersmäßig auch noch andere Gründe. Nicht dass die nicht gewollt hätten, sondern weil sie vielleicht noch zu fest daheim eingebunden waren und gar nicht weg gekommen sind.
Es waren ein Teil Lehrlinge, ein Teil Schüler, ein Teil Arbeitslose. Das war auch eigentlich völlig sekundär ob jemand eine Wohnung hatte - Ja oder Nein -, sondern das Ziel war, erst mal ein entsprechendes Objekt zu finden und dann weiter zu schauen.“ (Andrea, 2001)
Nur wenig älter sind die Akteur*innen einer weiteren Hausbesetzung in der Silvesternacht in Nürnberg in der Veillodter Straße 33. Sie wendet sich gegen den Abriss des intakten Hauses zu Spekulationszwecken, der die Vernichtung von Wohnraum und den Wegfall eines beliebten Treffpunkts der Szene bedeutete: eine Kneipe mit Kleinkunstbühne. Doch bereits nach vier Tagen räumt die Polizei. Zudem zertrümmert sie die Einrichtung, um einer Wiederbesetzung vorzubeugen. Begründung für die Räumung diente ein Überfall auf den Hausbesitzer durch Unbekannte. Ein „Scherbengericht“ wirft zertrümmerte Möbel aus der „Veille“ tags darauf vors Polizeipräsidium. 6
Was bewegt 1980/81 junge Menschen dazu, Häuser zu besetzen? Diese Frage wurde den Beteiligten von damals bei den Interviews von Radio Z und auf unserer Podiumsdiskussion gestellt. Ihre Antworten zeigen eine große Bandbreite der Motive auf:
„Den Staat zerschlagen, den Kapitalismus zerschlagen. Spaß haben dabei. Einfach Bewegung. Wenn kaputt dann wir Spaß. So würde ich das vielleicht mal formulieren.“ (Armin, 2001)
„Also wir haben ja auch immer argumentiert gegenüber der Presse und dann in späteren Verhandlungen der Stadt gegenüber, dass natürlich die soziale Situation, sprich Wohnraum in Nürnberg, damals natürlich verheerend gewesen ist und das war auch mit denke ich der Grund, warum wir das Haus damals besetzt haben“ (Gerti, 2001)
„Die Unzufriedenheit mit der Lebenssituation, die speiste sich bei uns aus dem Druck, den man in der Schule und in der Lehre erfahren hat. Dann der Stress mit den Alten natürlich, und mit den Lehrern und anderen Autoritätspersonen. In der Tendenz war diese ganze Kritik schon links konnotiert, mehr oder weniger diffus, weil wirkliche theoretische Grundlagen eigentlich noch gefehlt haben. “ (Max, 2023)
„Ja. Man hat ganz klar dieses System in Frage gestellt. Wir waren zum Beispiel zu dritt oder zu viert in der Berufsschule einer Klasse im BGJ damals und haben Streiks organisiert in der Schule und auch ganz gute andere Aktionen. Es hat viel Spaß gemacht auf jeden Fall. Wir haben zum Teil auch die Eigentumsfrage gestellt. Es ist ja nicht so, dass das nicht in unseren Köpfen war“ (Natale, 2022)
„Für mich war es ein politischer Prozess. Bei der SPD-Jugendarbeit (als Mitglied der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken, Anm. d. V.), war die Idee zu sagen: die Fehler, die in dem System existieren, an denen muss man arbeiten, an denen muss man was ändern. Und nach der Geschichte mit der Hausbesetzerei und an vielen Stellen dem Umgang mit uns, war mir klar, dass nicht irgendwelche Fehler im System sind, sondern dass das System an sich der Fehler ist. Also für mich politisch komplett ein Paradigmenwechsel und der hat sich eigentlich bis heute bestätigt und durchgehalten.
Für mich ging es darum, tatkräftig etwas zu verändern am Status quo, und das hieß dann: Man muss irgendwann von den Gedanken in die Aktion kommen. Und die Häuser zu besetzen und zu sagen, die stehen sinnlos leer, verfallen und wir nutzen sie als Wohnraum, das war logisch.“ (Marcus, 2022)
„Ich fand es toll, in großen Gruppen was zu machen, so zu wohnen mit Menschen zusammen, mit denen ich mich organisieren konnte. Ja! Für eine bessere Welt. “ (Ute, 2022)
Instandbesetzung
„Wir sind nicht zum Vordereingang rein, sondern hinten über den Innenhof. Und wir hatten nicht mal Werkzeug dabei. Ein Fenster haben wir dann mit Gewalt aufgebrochen. Das war die erste Zeit der Haupteingang vom besetzten Haus. Daher gab es eine Zeitlang das geflügelte Wort: ‚und vergiss die Brechstange nicht‘. Denn es war natürlich schon sehr naiv ein Haus besetzen zu wollen, dort einzubrechen und nicht einmal Werkzeug dabei zu haben. (Max, 2022)“
Die in den 1970er Jahren entstandene Parole „Lieber instandbesetzen, als kaputtbesitzen“ wird von der Nürnberger Gruppe übernommen 7. Und so trägt eines der Transparente, die die Fassade der Johannisstraße 70 zieren, die Aufschrift „Instandbesetzung“.
„Ja, wir haben tatsächlich instandbesetzt. Ich glaube, es gab nicht mal einen Strom. Der war abgestellt in dieser Nacht. Wir mussten also mit Taschenlampen und Kerzen uns notbehelfen und haben relativ schnell Instandhaltungsgruppen organisiert, die dann Zimmer für Zimmer hergerichtet haben.“ (Natale, 2022)
"Ich muss uns doch ja mal loben, wie diszipliniert wir eigentlich waren. Wir haben mit dem Hausmeister vom KOMM - der hat uns sehr unterstützt damals – wir haben immerhin auf sein Anraten früh um halb sieben oder spätestens sieben angefangen zu streichen oder zu tapezieren, weil der meinte das gehört sich einfach so." 8 (Andrea, 2001)
Das Mittel der Instandbesetzung ist auch als Gegenkonzept zu einer Wohnungspolitik zu sehen, die bestehenden, billigen Wohnraum vernichtet. Dies gilt zu der Zeit vor allem im isolierten West-Berlin. Im Rahmen einer Kahlschlagsanierung wird dort zügig neu gebaut. Gleichzeitig werden ohne Mitsprache der Betroffenen Altbauten abgerissen. Trotz Subvention sind die neuen Wohnungen erheblich teurer. 15 % der Berliner und Berlinerinnen leben am Existenzminimum. Viele von ihnen befinden sich „auf einer ständigen Flucht vor einer die Miete hochtreibenden Modernisierung“ 9. Sie drängen sich in den noch nicht abgerissenen Altbau-Häusern zusammen.
"Es gibt viele Familien, die zu acht in ein bis zwei Zimmern wohnen und sich mit anderen ein Podestklo im Hausflur teilen müssen. Das in den Sanierungsgebieten herrschende Elend ist heute oft identisch mit dem Elend der Berliner Arbeiterbezirke vor 100 Jahren",
stellt der Städteplaner Urs Kohlbrenner 1981 fest.
Unterstützung aus der Bevölkerung
So drastisch wie in Berlin sind die Verhältnisse im Nürnberg der 80er Jahre nicht. Doch auch hier herrscht Wohnraummangel. Altbauten werden zu lukrativen Spekulationsobjekten. 14 000 Wohnungssuchende sind beim Wohnungsamt registriert. Und so gibt es auch hier Verständnis oder gar Sympathie in der Bevölkerung für die Regelüberschreitung.
Denn beim Thema Hausbesetzung sind 1981 die Ansichten so geteilt, wie das heute angesichts der Aktionen der Klimabewegung der Fall ist. Laut einer Allensbach-Umfrage von damals äußern 51 % der Befragten Verständnis, nur ein Drittel lehnt die Aktionsform komplett ab.
Jaqueline Stuhler und Harald Wild - damals für das Jugendprogramm Zündfunk des Bayerischen Rundfunks unterwegs - holen vor dem besetzten Haus in Johannis die Meinung der Passanten ein:
Zündfunk: „Was meinen Sie denn dazu, dass das Haus da jetzt besetzt ist? Finden Sie das in Ordnung?“
Passantin 1: „Na ja, freilich schlupft mer irgendwo rein, wenn mer keine Wohnung hat, ne?“
Zündfunk: „Also die argumentieren so, wenn man keine Wohnung hat, dann muss man sich eine nehmen, wenn welche leerstehen. Finden sie das in Ordnung?“
Passantin 1: „Na warum denn net? Is scho in Ordnung.“
Passant: „Einem fremden Mann sei Eigentum besetzen, wo gibts denn so was.“
Passantin 1 (unterbricht): „Da muss mer halt ein’n einziehn lassen.“
Passant: „Naa, des is unmöglich. Weil ich kann Ihnen ja aa net ihr Tonband wegnehma und sogn des ghört etz mir. Und genau so können Sie dem Mann des Haus net besetzen.“
Passantin 1: „Des steht doch leer, na kennas doch nei!“
Passant: „Naa, naa, so geht des net.“
Passantin 1: „Ja doch. Na solln sie’s vermieten.“
Passantin 2: „Und was die etz machen: Leitungen anzapfen. Des is ja Diebstahl.“
Passant: „Des is ja Diebstahl, wenn i a Wasser ozapf von der Stadt oder wenn ich es Licht ozapf.“
Passantin 2: „An wen verteiln’s denn die Flugblätter? Immer an alte Leut’, die mit der ganzen Sache gar net mehr mitkommen.“
Passantin 1: „Also etz will i mal so sogn. Wenn Sie nix hättn. Wo gängertn na Sie hie?“
Passantin 2 (empört): „Schauens ner mal was’ drin treibn.“
Passant (zum Interview-Team): „Wissens was die da drin treibn?“
Passantin 2: „Ja, mir hams scho beobachtet!“
Zündfunk: „Was haben Sie beobachtet?“
Passantin: „Da liegn’s miteinander auf ihre Matratzen ...“
Passant: „.... auf ihre (unverständlich) und rauchen Hasch.“
Von sympathisierenden Anwohnern erhalten die Besetzer*innen der Johannisstraße 70 auch materielle Hilfe.
„Wobei das Echo insgesamt damals der Bevölkerung auf die Besetzung nicht nur nicht schlecht, sondern eigentlich ganz gut war. Es folgte dann, dass die Leute, die ins Haus gekommen sind ganz einfache Sachen wie Lebensmittel umsonst vorbeigebracht haben oder Möbel, wenn wir welche gebraucht haben und die sie entbehren konnten.“ (Gerti, 2001)
Um die Unterstützung aus der Nachbarschaft wird auch bewusst geworben. In einer Spendenaktion sehen die Besetzer*innen die Möglichkeit im Viertel direkt mit der Bevölkerung Kontakt aufzunehmen und ihrer Skepsis zu begegnen. Das Viertel hatte die Gruppe mit Absicht gewählt, da es von Arbeiter*innenfamilien bewohnt ist. Es werden auch Leute direkt ins Haus eingeladen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
„Ich kam ja selbst aus dem Stadtteil, manche kannte ich auch. Es gab natürlich auch junge Menschen aus der Bevölkerung, die Motorrad oder Moped gefahren sind. So ein bisschen rocker-like. Die kamen dann tatsächlich mal zu einer Party. Mit ihnen haben wir dann richtig diskutiert über Politik und über Unsinn und Sinn von Besetzungen. Wir haben relativ schnell die Eigentumsfrage gestellt und auch nach außen getragen, was wir da wollen: Dass Eigentum verpflichtet und nicht unbedingt so okay ist - Privateigentum, das zur Spekulation verleitet. Und das haben wir mit denen zum Beispiel diskutiert.“ (Natale, 2022)
Politische Positionen, Organisation, Gewaltfrage
Die Forderung nach Abschaffung des Privateigentums wird nach außen hin freilich weniger stark betont. Im Interview mit dem Zündfunk wird das Instandsetzungs-Vorhaben in den Vordergrund gestellt:
„ Ja wir wollen zuerst mal schauen ob wir mit dem Verhandlungspartner dann einen Mietvertrag aushandeln können. Und er soll in etwas so aussehen, dass wir zunächst mal hier mietfrei wohnen, weil wir ja schließlich das ganze Haus renovieren, was an und für sich Sache des Hausbesitzers wäre. Und ansonsten eben einen angemessenen Mietvertrag.“ (Andrea, 1981)
Eine genau festgelegte politische Linie oder eine gemeinsame Theorie-Basis hat die zusammengewürfelte Gruppe nicht. Am ehesten fühlen sich viele zum Anarchismus hingezogen. Sie nennen sich das „Olaf-Ritzmann-Kollektiv“ nach einem 16jährigen Tischlerlehrling, der im August bei einer Anti-Strauß-Demo ums Leben gekommen war. Über Alltagsfragen, aber auch über Forderungen und Vorgehen wird ausführlich diskutiert und basisdemokratisch entschieden.
„Wir hatten ja fast täglich Plena, manchmal auch mehrmals täglich, wo besprochen wurde was man braucht, was man organisieren muss.
Ich kann mir eine Vollversammlung erinnern, auf der beschlossen wurde, wieviel Leute im Haus wohnen können. Nach einem Punktesystem wurde praktisch „ausgelost“ wer am Schluss drin wohnen durfte.
Der wichtigste Punkt zum Beispiel war Bedürftigkeit. (Galt für mich nicht. Ich habe bei meinen Eltern gewohnt). Weitere Punkte waren: Wer war von Anfang an dabei, wer hat sich besonders im Haus engagiert...
Ich weiß noch, dass ich als Vorletzter rein gerutscht bin. Das finde ich für mich in der Erinnerung spannend. Denn die Besetzung in der Johannisstraße 70 und die Leute, die ich da kennen gelernt habe, haben mein Leben definitiv geprägt und deutlich verändert.“ (Marcus, 2022)
Diskutiert wird natürlich auch, was im Falle einer Räumung geschehen soll. Sollte man das Haus nach Aufforderung verlassen, gewaltfreien Widerstand leisten, es militant verteidigen? Die Debatte spiegelt sich in einem Statement im Rahmen der Zündfunk-Reportage von 1981 wieder:
„Es war anfangs so, dass Leute da reingekommen sind und über aktiven Widerstand geredet haben. Und es hat sich aber ziemlich schnell gezeigt, dass die Leute absolut abgeblitzt sind.
…Wenn ich die ersten Anzeichen für einen gewaltsamen Widerstand sehe, werde ich das Haus verlassen, weil ich das nicht mit mir vereinbaren kann und die Leute sind abgeblitzt. Und ich glaub dass wir uns sicher gescheit beherrschen müssen, aber dass auf gar kein Fall was abläuft.“ (Marcus, 1981)
Im Interview von 2001 macht ein ehemaliger Besetzer allerdings deutlich:
„Also das Statement ist halt ein Kompromiss der Presse gegenüber und natürlich hat es heftige Diskussionen darum gegeben. So eindeutig wie das bei dem Interview rauskommt, war es mit Sicherheit nicht.“ (Armin, 2001)
Räumung und Aktionen danach
Nach zwei Monaten Besetzung, am 18. Februar 1981 morgens, wird das Haus in der Johannisstraße 70 geräumt. Die angetroffenen Besetzer*innen leisten passiven Widerstand und werden von der Polizei herausgetragen. Andere erfahren in der Berufsschule vom Ende der Besetzung.
„Einige von uns waren in verschiedenen beruflichen Klassen. Es gab die Meldung ‚Heute Morgen ist geräumt worden‘ und dann sind wir mitten im Unterricht aus der Klasse gegangen und sind zu dem Haus gefahren.
Da standen aber schon Hundertschaften und haben es abgeriegelt und alles war schon raus. Es war auch vieles demoliert. Es sollte klargemacht werden, dass es unbewohnbar bleibt dann für die Zukunft. Es sollte nicht noch mal neu besetzt werden. Das war die Räumung.“ (Natale, 2001)
Die Hausbesetzungsszene reagiert empört und mit Protestaktionen. Noch am selben Tag wird das Wohnungsamt kurzfristig besetzt. Die Stadt bietet Verhandlungen an. Eine Vollversammlung im selbstverwalteten KOMM am Abend, auf dem die Räumung diskutiert wird, ist brechend voll. Es bildet sich eine Demo, die begleitet von einem Polizeiaufgebot kreuz und quer durch die Straßen zieht und schließlich ins Stadtviertel Johannis führt.
Die Einsatzleitung fürchtet, dass eine Besetzung stattfinden soll. Und tatsächlich dringen einige Personen in ein leerstehendes Haus ein. Als die Einsatzkräfte zugreifen wollen, sind die ortskundigen Eindringlinge aber bereits durch Hinterhöfe und anliegende Gärten verschwunden. Die Demo verweilt noch eine wenig vor dem Haus. Parolen und Sprechchöre ertönen. Dann zieht der Zug einige hundert Meter weiter zur Johannisstraße 47. Dieses Gebäude steht ebenfalls leer. Es ist ein Fachwerkhaus dessen Geschichte ins 17. Jahrhundert zurückreicht.
Als die Demo ankommt, zeigt sich jedoch, dass es nicht mehr so unbewohnt ist, wie erwartet.
„Das war eigentlich ein ganz guter Coup, weil die Polizei natürlich aufgepasst hat. Aber das Haus war davor schon besetzt, die Besetzer waren schon drin als der Demozug kam und haben dann die Transparente herausgehängt und (es gab) ein großes Hallo und Haha und die Bullen waren natürlich in dem Fall die gefoppten“ (Max, 2022).
Das Gebäude sollte in den Folgejahren restauriert werden. Es beherbergt heute ein gehobenes Café mit Blick auf den barocken Hesperidengarten und dessen Brunnen und Knabenskulpturen. Zum Zeitpunkt der Besetzung ist es in einem sehr schlechten Zustand und unbewohnbar. Ein dauerhaftes Bleiben ist freilich gar nicht geplant. Das Haus wird noch in der gleichen Nacht freiwillig wieder verlassen.
Auf Basis von Verhandlungen mit der Stadt Nürnberg erhält im Anschluss das Olaf-Ritzmann-Kollektiv eine Ersatzunterkunft in der Bucher Straße 22. In zwei Wohnungen leben hier mehrere Monate lang zwanzig Personen auf engem Raum. Doch die Aktivitäten der Szene kann das Zugeständnis kaum bremsen. In den folgenden Wochen kommt es immer wieder zu Protestaktionen:
„Es gab einen bestimmten Tag, an dem immer Demos waren. Ich weiß nicht mehr woher ich dann wusste, wo das ist, aber es gab irgendeinen Punkt wo es los ging und dann war ich halt da oder nicht da.“ (Ute, 2022)
„Es gab tatsächlich ständig Plena, Demos, Treffen. Insbesondere nach der Räumung war klar, wir müssen eine adäquate Antwort darauf finden. Und eine Besetzung noch mal zu organisieren, fanden wir damals schwierig.“ (Natale, 2001)
Massenverhaftungen
In der bayerischen Staatsregierung werden die Ereignisse mit Sorge betrachtet. Franz Josef Strauß schreibt an seinen Innenminister Gerold Tandler:
»Die schweren Ausschreitungen randalierender, brutaler Chaoten in Berlin, Frankfurt, Göttingen und Hamburg sind, Anlaß zu ernster Sorge. Wir haben keinen Grund zu glauben, daß ähnliche Vorgänge in Bayern völlig ausgeschlossen sind. Wie nahe wir ähnlichen Zuständen schon sind, zeigen die kürzlich erfolgten Hausbesetzungen in Erlangen und Nürnberg.
Wir müssen uns darauf gefaßt machen, daß die Welle der Gewalttätigkeiten auch bei uns spürbar werden kann. Ich halte es daher für notwendig, daß Sie schon jetzt alle Maßnahmen ergreifen, damit sich solche Vorgänge hier nicht ereignen können.“ 12
Am 04. März 1981 kritisiert Strauß die angeblich zu nachsichtige Behandlung der Hausbesetzungsszene durch die Justiz.
„Freie Hand für Rechtsbrecher und Gewalttäter, aber drakonische Strafen für einen kleinen Mann, der einmal einen Paragraphen nicht beachtet (..). Ich bin ein überzeugter Anhänger des Rechtsstaates, aber die großen Lumpen muss man schwerer aufs Hirn hauen, als man die kleinen Leute verfolgt.“ 13
Als Marschbefehl für seine Gefolgsleute bei Justiz und Polizei wird das Wochenmagazin Spiegel diese Aschermittwochsrede des Ministerpräsidenten Strauß im Rückblick interpretieren. Einen Tag darauf kommt es zu den „Nürnberger Massenverhaftungen“. Unter dieser Bezeichnung schrieb der 05. März 1981 Rechtsgeschichte. 172 Personen werden nach einer Demo im Nürnberger KOMM festgenommen, 141 von ihnen kommen teils wochenlang in Haft.
Ein Video über die holländischen Hausbesetzer*innen, die Kraaker, produziert von einem linken Medienkollektiv, löst die Ereignisse aus, die zur Massenverhaftung führen. 14 Ein Jahr zuvor hatte die Revolte in Amsterdam für Aufsehen gesorgt. Gegen die Räumung eines Hauses in der Vondelstraat leisten die Kraaker diesmal nicht nur passiven Widerstand. Sie besetzen das Gebäude erneut und errichten riesige Barrikaden auf den Straßen. Drei Tage lang tobt eine regelrechte Schlacht. Es werden 1500 Polizisten und Räumpanzer gegen die Aufständischen eingesetzt.
Der Film „Eine Vondelbrücke zu weit“ über diese Ereignisse wird am Abend des 5. März 1981 auch im Nürnberger KOMM gezeigt. Veranstalter sind die Medienwerkstatt Franken und die Prolos, eine eine noch heute existierende autonome Gruppe, die 1980 von jugendlichen Akteur*innen der Besetzungsszene gegründet worden war. Die drastischen Bilder des Films lassen beim Publikum Emotionen hochkochen.
„In dem Raum waren, mehrere 100 Menschen, die diesen Film gesehen haben. Ich glaube es war auch kalt am fünften März. Es war frisch und wir waren alle gut warm eingepackt, haben gesagt jetzt raus. Wir sind dann durch die Innenstadt und haben eine Demo gemacht...“ (Natale, 2022)
„...die dann durch die Stadt gezogen ist und dabei ist dann auch die ein oder andere Schaufensterscheibe eingeflogen.“ (Max, 2022)
Die erste „Scherbendemo“ der 80er Jahre in Nürnberg verursacht einige tausend Mark an Sachschaden. Die hinzugekommene Polizei begleitet den Zug zunächst ohne einzugreifen. Anschließend zieht die Demo zurück vor das KOMM. Etliche Teilnehmende tauchen in die U-Bahn ab, andere ziehen sich ins KOMM zurück.
„Wir hatten die Befürchtung, dass es vielleicht Festnahmen geben würde, wenn wir jetzt nach Hause gehen. Wir wussten nicht, was da passiert. Also sind wir in das Haus gegangen.“ (Natale, 2022)
Die Polizei umstellt das KOMM für Stunden und hindert die Personen im Gebäude, mit Ausnahme der Beschäftigten, am Verlassen des Hauses. Dort befinden sich aber über die Teilnehmenden der Demo hinaus viele andere Gäste des KOMM.
„Früh morgens gab es die Ansage: Wir können jetzt alle rausgehen, wir müssen nur unsere Personalien abgeben und können nach Hause gehen. Aber das war nicht der Fall. Wir kamen in Wannen (Anm: Gefangenentransporter) und sind dann in Untersuchungshaft gekommen. Ich war in Nürnberg in Zug zur Polizeistation und bin am nächsten Tag nach Würzburg verfrachtet worden.“ (Natale, 2022)
Denn in der Zwischenzeit ist die Maschinerie der Staatsmacht auf Hochtouren gelaufen. Richter werden aus dem Bett geklingelt, um Haftbefehle gegen vermeintlich Teilnehmenden der Demo auszustellen. Und es ist unglaublich: Ohne die Darstellung der Polizei im geringsten in Frage zu stellen unterschreiben diese Richter Haftbefehle für insgesamt 141 Personen. Die Dokumente werden – für quasi alle, die im KOMM sind, und alle mit den wortgleichen Begründungen – kopiert!!! Nicht wenige der Verhafteten hatten sich nur zufällig an diesem Abend im KOMM aufgehalten. Doch alle sind des Landfriedensbruchs verdächtig. Bei allen besteht Verdunklungsgefahr. 15
Die Verantwortlichen bei den Behörden und in der Politik sehen sich allerdings völlig im Recht. Der Nürnberger Polizeihauptkommissar Müller erklärt gegenüber der Öffentlichkeit:
"Wir haben jahrelang gewartet und das KOMM genau beobachtet. Und am 5. März haben wir geerntet." 16
Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß selbst äußert sich nicht zu den Massenverhaftungen. Die Staatskanzlei verteidigt jedoch das Vorgehen in einer Presseerklärung:
„Opportunistisches Zurückweichen des Staates vor Rechtsbrechern, wie dies in Berlin geschieht, ist mit Sicherheit nicht das geeignete Mittel, die neuerliche Gewalt in den Griff zu bekommen. In Bayern wird der Rechtsstaat aufrecht erhalten." 17
Dieser „Rechtsstaat“ bringt 141 junge Menschen ins Gefängnis. Demonstriert haben viele der Betroffenen. Kein Mensch ist dabei zu Schaden gekommen. Nur Fensterscheiben sind zu Bruch gegangen. Betroffene Zeitzeuge*innen geben an, die Erfahrung der Haft habe ihr Leben und ihre politische Haltung entscheidend verändert. U-Haft für einen Sachschaden von einigen 1000 DM ohne konkreten Anhaltspunkt beim Einzelnen. Zu was wäre dieser Rechtsstaat da wohl noch alles fähig?
Für die geräumten Besetzer*innen ist damit zunächst Schluss mit Verhandlungen. Armin, der als Minderjähriger nach einigen Tagen aus der U-Haft entlassen wird, erinnert sich:
„...dass es darüber dann eine Radikalisierung gegeben hat. Klar, wenn zehn Leute von fünfzehn im Knast hocken, dann geht’s nicht mehr darum: verhandelt man über Häuser oder nicht. Da geht es dann um einen ganz anderen Punkt.“ (Armin, 2022)
Ein Ermittlungsausschuss gründet sich. Er leistet unermüdlich harte Arbeit. Überregional müssen Anwälte angesprochen werden. Treffen für die schockierten Eltern werden organisiert. Einige von ihnen erfahren erst nach Tagen genaues über den Verbleib ihrer Kinder.
Die Inhaftierten werden unter Druck gesetzt. Bei späteren Zusammenkünften sprechen Juristen von Beugehaft. 18
Es wird eine Bürgerinitiative 5. März ins Leben gerufen, vorwiegend von Eltern. Unter ihnen sind Politiker*innen, andere sind selbst politisch bewegt oder bewegt gewesen. Ihren Erfahrungen und dem Einsatz von Ermittlungsausschuss und Anwält*innen ist es zu verdanken, dass der Protest nicht unter den Teppich gekehrt werden kann. Bundesweit werden die Massenverhaftungen zum Skandal. Die liberale Presse berichtet ausführlich.
Auch die Besetzungsbewegung ist aktiv. Bereits 2 Tage nach den Verhaftungen ziehen 2000 Menschen durch die Straßen. In Sprechchören fordern sie: „1,2,3, lasst die Leute frei“. Proteste finden auch vor dem Gefängnis statt.
In den kommenden Tagen werden mehrere kleinere Anschläge verübt. In bayerischen Städten gibt es Solidaritätsaktionen. Schüler und Schülerinnen setzen sich für ihre verhafteten Mitschüler*innen ein. 19
Der Druck auf den verschiedenen Ebenen zeigt Wirkung. Die Minderjährigen werden freigelassen und aus den verschiedenen bayerischen Haftanstalten in Gefangenentransporten zurück nach Nürnberg gebracht.
„Wir haben dann hinten gesessen und Quatsch gemacht, waren froh dass wir uns endlich wieder sehen konnten, dass wir nicht mehr alleine waren, wie zuvor in der Zelle. Wir waren ja alle so um die 17 oder 18 - saßen da halt im Polizeiauto und haben einfach nur Blödsinn gemacht.“ (Ute)
Am Abend des 10. März 1981 folgen 7000 Menschen dem Aufruf der SPD zu einer Kundgebung vor der Nürnberger Lorenzkirche. Hermann Glaser – Literaturwissenschaftler und Kulturreferent Nürnbergs - ist einer der Redner. Er ist Urheber des Begriffs Soziokultur und gilt als Vater des KOMM. Angelehnt an Emile Zola’s Stellungnahme zur Dreyfus-Affäre „J’accuse“ – ich klage an - thematisiert er Hintergründe und politische Dimension des Skandals und des Angriffs auf das Kommunikationszentrum:
„Ich klage an den bayerischen Innenminister und den bayerischen Innenminister, dass sie durch eine maßstabslose Aktion begonnen haben, die rationale und offene Jugendpolitik gerade in dieser Stadt kaputtzuschlagen … das geht weit über Nürnberg hinaus, dass sie dieses Vertrauen zerstören. Ich klage an, den Nürnberger Polizeipräsidenten…“ 20
Nach zwei Wochen kommen auch die anderen Gefangenen frei. Für die Bürgerinitiative 5. März und den Ermittlungsausschuss beginnt nun erst die Arbeit. Die Aufarbeitung des Geschehenen, die Recherche der Ereignisse und der Beteiligten an dem Justiz- und Polizeiskandal.
Die Letzteren stehen freilich nicht vor Gericht. Es sind 78 Demo-Teilnehmer- oder KOMM- Besucher*innen, die wegen Landfriedensbruch angeklagt werden. Doch im Prozess decken die Anwälte ein regelrechtes Komplott auf. Entlastende Aussagen von Polizisten waren unterschlagen worden, die Aussage eines V-Manns wurde abgeschickt und kam angeblich nie an, der Mann selbst erhält Aussageverbot, aus den Prozessordnern sind Seiten verschwunden. 21
Schließlich wird „der Eröffnungsbeschluss des Verfahrens zurückgenommen“. Ein juristischer Trick, mit dem die Verfahrens-Einstellung vermieden wird. Die 19 Angeklagten werden also nicht freigesprochen, aber sie erhalten 10 DM pro Tag Haftentschädigung. Auf diesem Weg wird verhindert, dass die Verantwortung von Staat und Justiz aufgearbeitet werden kann.
Radikalisierung
Für den militanten Kern der Besetzungsszene und damit einen Teil der Betroffenen spielt die juristische Aufarbeitung ohnehin keine Rolle. Am Jahrestag der Massenverhaftung stürmen Aktivist*innen bei einer Veranstaltung der Bürgerinitative die Bühne und erklären: „Wir fordern keine Einstellung der Prozesse, sondern die Abschaffung der Justiz! Feuer und Flamme für diesen Staat“. So berichtet die Autonomen-Zeitung Barricada.
„So sorgte die fortgesetzte Repression und Kriminalisierung für Einschüchterung und Frust in Teilen der Bewegung, andererseits trug der massive staatliche Terror zu einer schnell voranschreitenden Radikalisierung ihrer Kerne bei. Die Autonome Linke, die sich aus diesen Kernen im Verlauf der Bewegung herausbildet hat, die die ersten Schritte von der spontanen Bewegung zur organisierten autonomen politischen Kraft gemacht hat, nimmt zahlreiche Erkenntnisse aus der Bewegungszeit mit auf ihren Weg.“ 22
Weitere Hausbesetzungen folgen. Die Militanz nimmt zu. Die staatliche Seite setzt weiter auf Repression und Kriminalisierung der Bewegung. Dies zeigt sich bei der Besetzung einer Villa im Nürnberger Norden. Ein Sondereinsatzkommando wird unverzüglich zur Räumung abkommandiert. Später stellt sich heraus: ein Agent Provokateur ist Teilnehmer der Besetzung.
„Es ist dann ziemlich dramatisch geworden. Als die Polizei räumen wollte, haben die sich dann teilweise auf dem Dach verschanzt. Aber das war eine richtige Bullenaktion. Und einer ist später auch als Agent Provokateur der Polizei ganz offiziell entlarvt worden. Das ist bekannt.“ (Max, 2022)
Als die Besetzung und der Beginn der Räumung bekannt werden, ziehen Unterstützer*innen vors Haus um dagegen zu protestieren. Darunter auch Marcus. Wegen rein verbaler Solidaritätsbekundungen wird er für die „Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“ vor Gericht gestellt.
„Als dann geräumt wurde, stand ich nur in einem Vorgarten gegenüber und hab mit Sprechchören, wie halt damals so üblich, meinen Unmut zum Ausdruck gebracht.
Im Nachhinein hat sich herausgestellt: die Besetzer hatten sich verbarrikadiert und haben angeblich vom obersten Stock Übungshandgranaten der Bundeswehr nach den räumenden Polizisten geworfen. Und ich hätte Anweisungen gegeben, sie sollen weiter links oder weiter rechts werfen.
Das war so lächerlich und spätestens da war dann auch wieder klar: Der Staat ist repressiv. Weil verschiedene Polizisten das bestätigt haben, muss es eine Absprache gegeben haben. Das war so jenseits von Allem was ich mir vorstellen konnte zu dem damaligen Zeitpunkt.“ (Marcus, 2022)
Tatsächlich wird Marcus verurteilt, wenn das Urteil auch milde ausfällt. Ins Gefängnis muss er nicht. Dreizehn Besetzer hingegen werden verhaftet, einige erhalten drakonischen Haftstrafen.
Nachwirkungen
Nach dem erdrutschartigen Wahlsieg der CDU am 10. Mai 1981 in Berlin wird dort ein Repressionskurs gegen die Besetzungsbewegung gefahren. Bis Mitte der 80er Jahre wird ein großer Teil der Häuser wieder geräumt. Viele Haus-Gruppen setzen auch auf eine Verhandlungslösung. Verhandeln oder Nicht-Verhandeln wird zur Spaltungslinie.
Auch die SPD-regierte Stadt Nürnberg ist nach dem Vorbild des noch von der SPD-Regierung ins Leben gerufenen Berliner Modells zu Verhandlungen bereit. In der Szene gibt es dazu zwar unterschiedliche Haltungen, aber man streitet nicht darüber. Ein Teil der Besetzungsgruppe der Johannisstraße zieht an den Stadtrand, wo die Stadt ein großes leerstehendes Gebäude zur Verfügung stellt. Noch heute heißt dieses Haus „Olaf-Ritzmann-Haus“.
„Und wir sind aus einem politischen Kollektiv im Laufe von ein paar Jahren dann halt zu kollektiven Handwerkern geworden, und natürlich waren wir da draußen auch weit ab von der Szene, wir waren nicht in der Stadt drinnen. Das Projekt war riesengroß, es waren da alle Kräfte gebunden. Also das hat sich im Lauf von vier Jahren deutlich verändert.“ (Marcus, 2022)
An Heiligabend 1981 gibt es schließlich in Nürnberg eine „Jubiläumsaktion“. Ein zum Abriss vorgesehenes großes Haus wird „scheinbesetzt“. Die Aktion ist eher eine fröhliche Performance und nach wenigen Stunden beendet. Für die Besetzungsbewegung in Nürnberg ist die Luft erst mal raus. Die Szene beginnt sich an anderen Themen zu orientieren.
Autonome Gruppen werden gegründet, man übt Solidarität mit Befreiungsbewegungen, liest die Klassiker marxistischer Theorie, Frauen organisieren sich in feministischen Gruppen.
Ende der 80er Jahre wird erneut eine Bewegung in Nürnberg entstehen, die die Wohnungsfrage aufgreift. Der „Nürnberger Besetzerrat“ wird gegründet und entwickelt eine Vielfalt an Aktionsformen. Er kann auf die Erfahrung der Akteur*innen von 1980/81 zurückgreifen, von denen viele erneut beteiligt sind. 23